Dominik Sittig
Tarragona Barcelona 1979
Text
Great Expectorations

by Clemens Krümmel

Es gibt keine Malerei. Es gibt nur Gemälde. Und da es keine Würstchen sind, sind sie weder gut noch schlecht. Alles, was man sagen kann, ist, daß sie mit mehr oder weniger Verlusten ein absurdes, mysteriöses Drängen zum Bild wiedergeben und daß sie mehr oder weniger dunklen inneren Spannungen entsprechen. Zu beurteilen, bis zu welchem Grad dies gelungen ist, steht Ihnen nicht zu, denn Sie stecken nicht in der Haut des Spannungsgeladenen. Er weiß es meist selber nicht. Es ist auch ein uninteressanter Koeffizient. Denn Verlust und Gewinn wiegen gleich viel in der Ökonomie der Kunst, wo das Nichtgesagte das Licht des Gesagten und jede Präsenz zugleich Absenz ist.
Samuel Beckett, Die Welt und die Hose, 1945/46 (1)

Na, sollen wir noch ein bisschen über Malerei reden? Nicht? Sie meinen, das werde allen vielversprechenden Ankündigungen und Hoffnungen in den letzten zehn Jahren zum Trotz doch keine richtige Debatte mehr? Weil sich doch letztlich die fundamentalistische Kritik selbst lächerlich macht und ihre Funktion als attention getter für die konservativen Bedürfnisse des Markts verbirgt, wo sie kann? Weil die ‚künstlerische Forschung‘ und ‚das Kuratorische‘ doch für den Arbeitsmarkt viel relevanter sind? Mir hat ja der Titel der Tagung vor zwei Jahren an der Jan van Eyck Academie in Maastricht ganz gut gefallen, Painting: The Implicit Horizon. Na ja, eigentlich vor allem das Motiv der Einladungskarte, eine Karikatur des für den New Yorker arbeitenden Zeichners Alain, die ein auf der Staffelei im Atelier stehendes, hochdramatisch gemaltes Seestück zeigt, mit offenbar so überzeugenden Wogen, dass darob am rechten Bildrand der Künstler selbst aus dem Fenster reihert. Expanded field, muahaha. Und wenn Malerei nun tatsächlich nur noch in einem ‚expanded field‘, ‚beside itself‘ existieren könnte, aus ihrer im Ideal wortlosen Domäne geflohen, als relationalisierter Rest altväterischer Kunstmodernismen, als nicht zu verachtender Marktfaktor (Stichwort: Mitnahmepreis) künstlich am Leben gehalten würde? Natürlich bewegen wir uns bei dieser Diagnose haarscharf an der diskursiven cutting edge, natürlich gibt es weiter und immer weiter Zehntausende, die einfach ‚Bilder‘ malen, die glauben, diese sprächen schon für sich. Wie wäre es aber für die ‚Progressiven‘ so weit gekommen, dass sie aus der Bildfläche in den Malereiraum, aus dem kaustischen Schweigen in netzwerkerische und diskursive Performanz hinaus mussten? Wären es wie beim letzten Mal die Reproduktionsverhältnisse um die Malerei herum, die Konkurrenz mit technisch avancierten Medien oder die unglaublich verspätete Ernüchterung über die ideologische Beschränktheit ihrer Repräsentationsverfahren, die dahinter stecken?

Die Malerei, um die es hier gehen soll, kommt nicht allein. Sie ist eingebettet in eine nicht als Beiwerk gemeinte performative Redetätigkeit und Textproduktion.
Nehmen wir die drei künstlerischen Hauptaktivitäten von Dominik Sittig – Malen, Reden, Schreiben – als zeittypische Konstellation an, dann könnte man sich in der kunstkritischen Zumutung bestätigt fühlen, es bedürfe nunmehr einer ‚Malerei+‘, einer Übermalerei, einer surpeinture, die sich den Zeit- und Raumlogiken der anderen zeitgenössischen Künste anpasst.

Dominik Sittig macht es einem nicht leicht. Denn seine Malerei ist nicht nur nicht seine einzige Produktion, sie ist vielmehr hauptsächlich Gemale, sie will zunächst einmal keine Bilder im engeren Sinne in die Welt setzen, ihr Idiom ist abstrakt und expressiv, sie nähert sich dem Allover-Painting an und präsentiert sich als Glied in einer Traditionskette freien Schmierens. Oft, obwohl es eigentlich zu allem anderen als zu einer Trademark geronnen ist, wurde Sittigs Malerei mit dem technischen Begriff ‚impasto‘ beschrieben. Diese malerische Technik, das Malen als direkter Auftrag aus der Farbtube, das noch nahe dran zu sein scheint an der niederhochdeutschen Etymologie des Worts Malerei („Hantieren mit Farben“), hat sich bei ihm bis weit an den Rand dessen verselbstständigt, was die meisten Dummerchen noch als Malerei anerkennen würden. Deutlich sichtbar und gut ausgeformt ist aber in ihr das Spiel mit dem Gekonnten im Ungekonnten. Es ist eine ätzende, mistige Atmosphäre, die die in zahllosen Schichten aus Farbwürsten und Schlieren angelegte Malerei umgibt, die in den letzten Jahren immer schwergewichtiger geworden ist: Die Farben sind exkremental, bräunlich, grünlich, gelblich, gräulich, so genannte ‚reinere‘ Farben ergeben sich oft nur aus Nachbarschaftsverhältnissen innerhalb der Schichtungen, lugen zwischen Schlieren hervor. Manche wollen in diesen Arbeiten ein Kokettieren mit historischen Malweisen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erkennen, in der Tat wirken sie alt, willkürlich, unbelehrbar. Sie sind Tiefenschichtung und Flächenfüllung, lassen wenig frei, stellen ihre Dichte aus, erweisen sich aber bei näherem und geduldigerem Betrachten als durchaus zu erstaunlichen Differenzierungen fähig, die man von weitem nicht erwartet hätte. Das Gestische scheint von einer ursprünglich irgendwo auf die Leinwand gesetzten Ausgangsbewegung, einem Schlenker oder Schnörkel aus gewachsen zu sein (aber nicht natürlich), oft hat sich Sittig aus der Blindheit eines Anfangs immer weiter vorgetastet, benommen (kann auch von den Malmitteldämpfen kommen) und beherrscht. Akustische Halluzination: Der zwischen einfachem, fanatischem Röhren und einem Laut wie „kcchhhhhhhhhh“ changierende Vokal-Traditionalismus beim Death Metal. Transgression, die in der Sekunde ihres Entstehens Zuflucht in einer allumfassenden, ziemlich komplexen Disziplin sucht, sich die Übergänge von Gefängnis zu Gefängnis recht schön einzurichten versteht. Die Exploration – es liegt nahe, hier ein Streben aus der Fläche in den Raum zu diagnostizieren –, die von ihr ausgeht, erstreckt sich in der Schichtung, die so weit getrieben wird, dass mehrere Zentimeter dicke Farbüberlagerungen entstehen. Sind die dick, Mann.

Mimetische Ähnlichkeiten, zumindest figurative, das Gesicht in der Farbwolke und andere Späße, sind fast keine zu finden. Es wirkt fast, als habe der Künstler alles versucht, um sie zu vermeiden, eher kommt man auf kaum zu verfestigende glyphische Assoziationen. Aber es gibt natürlich doch Referenzen, wie es sie immer und bei allem gibt. Das schon erwähnte abjekt Exkrementhafte des gemalten Schmiers weckt durchaus Assoziationen, und keine sonderlich apollinischen. Dabei erinnern diese Bilder aber tatsächlich kaum an die visuellen Ergebnisse der historischen Vorläufer im Gebiet der exkrementalen oder mit anderen Körperflüssigkeiten betriebenen oder an diese gemahnenden Malerei, wie Hermann Nitsch, Paul McCarthy, John Miller, um nur ein paar zu nennen. Rein aus der Evidenz des Gemalten, auf der Leinwand Applizierten lässt sich wohl deswegen bei Sittig keine direkte Bezüglichkeit zu Körperprodukten gewinnen, weil zum einen das Verschmierte in seiner dunklen Öligkeit schon in ein entlegeneres Stadium der Verrottung entwischt scheint, und sich zum anderen doch auch immer wieder die Materialität der Malfarbe in den Vordergrund zurückdrängt. Auch die angewandten Techniken sind nicht naturalistisch eingesetzt, die Schichten brackiger Farbmiasmen, bröckelnder oder brüchiger Oberflächen, verkrakelter und verkratzter Materiehaufen wirken nicht wie ‚the real thing‘, das sich in malerischer Übersetzung vielleicht noch immer am schönsten an Richard Hamiltons Ulster-Gefangenenbild The Citizen (1981–83) in der Tate Modern studieren lässt. Trotzdem ist es zweifellos etwas Reales, das sich in Nahsicht und Fernsicht jeweils ganz unterschiedlich ausnimmt. Die von einigen Kritikern unterstellte Diagnose einer Nähe zu Abstraktionsweisen der Nachkriegszeit würde einem direkten Vergleich wohl nicht standhalten. Versuchte man es trotzdem, würde man schnell merken, dass es hier nicht darum geht, die Malerei in eine von Kriegsschuld noch (bzw. wieder) freie, also unschuldige, universalistische, vorbegriffliche Steinzeit oder in einen wie auch immer gearteten Naturzustand zurückzuversetzen. Es geht eher um ‚Sittig against Nature‘ – und gegenüber unterschiedlich bewerteten (vor allem europäischen) Malertypologien der Vergangenheit (peintres wie Buffet oder Mathieu, Abstraktionsideologen, Kunstkünstler, Geschichtsfresser mit rundem Ranzen wie Lüpertz, Kiefer), aber auch der Gegenwart (Richter, Butzer).

spermatikós lógos – Ein Wort gibt das Andere  Es ist schwierig mit Dominik Sittig. Haben bei mir – s.o. – seine reichlich vorhandenen und gut sortierten abjekten Malereimetaphernpools schon eine Tendenz zur delirierenden Nachdichtung geweckt, so wird schnell sein auktorialer Sprachgestus, der ein offensichtliches Distanzthema aufweist, zum eigenen Distanzproblem. Erlebt man eine seiner Vortragsperformances, in denen er, meist im Rahmen von Ausstellungssituationen, eigene Texte vorträgt, ergibt sich eine bemerkenswerte Asymmetrie der Bedeutungsproduktion. Diese Texte ächzen unter einem fingerdick aufgetragenen Avantgarde-anspruch, regurgitieren akzeptierte Experimentalidiome und -sprechweisen (Artmann, Wiener, Diederichsen, Goetz u.a.), in denen sich Kollegenkritik, ästhetische Aperçus und lange pornografisch klingende Passagen abwechseln, knüpfen an bei historischen Identifikationsfiguren wie Artaud oder referieren dann wieder gerade offene Theoriebaustellen, es bleibt aber – und das scheint nicht unfreiwillig – beim umherirrenden Fragmentumsatz, scheinbare Inkohärenz wird immer wieder durch sprachliche Attitüde ersetzt bzw. relativiert. Die Sprache schwankt zwischen bekenntnishaftem Tagebuchstil, einem hohen, literarischen Ton, Manifest-Slang, nüchternem Theoriespeak, sexualisierter Übergriffigkeit und hysterischem Umsichschlagen, ufert seitenweise in selbsterregter Logorrhoe und Anklage-Rants aus und vergisst dabei doch nicht, sich um typografische Dignität, überreichliche Sperrungen, Kapitälchen und Kursivierungen, römische Ordnungsziffern, blockhafte Überschriften, tipptopp Fußnoten und Motti zu kümmern. Die Texte sind nicht nur auf kuriose Weise überladen, erratisch, verstiegen, sie legen auch Fallen aus und treiben merkwürdige Spiele mit 
einem, werden zudringlich, riechen nach Angstschweiß und Größenwahn. Einerseits schließen sie scheinbar an eine ansehnlich laufende Theorierezeption an, die ernst genommen werden will, die eindeutig nicht ergoogelt oder ersoffen ist, andererseits wird dann der Wechsel in den offensiv als ‚sexistisch‘ kodierten Sprachmodus doch immer wieder zum kalkulierten Schockeffekt. In den von Sittig aufgeführten Sprechperformances, bei denen er vom Blatt liest, sich in einen jugendlich-eifernden Deklamationsstil hineinsteigert und rhetorisch rhythmisierte Kraftgesten einsetzt, gewinnen die Texte noch an Plastizität und sicherlich auch an Peinlichkeitspotenzial. Der da spricht, ist nun mal sicher nicht Prince.
Der mit der Ordnungsziffer 5 und Ekto-Manifesto betitelte jüngste Text beginnt mit dem sehr plastisch ausgeleuchteten Schwarzweiß-Foto eines rechten Ohrs, das durch seine Überdimensionierung vom gewohnten Wahrnehmungsregister ablenkt und plötzlich zu einer sexualisierten Körperöffnung wird – eine schon leicht anpeinelnde Assoziation, für die man sich noch nicht fertiggeschämt hat, wenn man bereits auf der folgenden Seite auf diesen mottohaft abgesetzten Text stößt:

IMAGINATION:
Da steckt man den Schwanz rein, und das fühlt sich so gut an,
dass man den gar nie mehr jemals überhaupt wieder rausziehen möchte,
vielmehr
nur tiefer, tiefer weiter rein …

Wie in vielen seiner Vorläufer wird auch hier ein biologisierter, sexualisierter Modus ausgebreitet, der sich nach und nach dem Gestus einer synthetischen, vor allem körperlich und (männlich) geschlechtlich orientierten Poetik annähert, in der Frauen und Weiblichkeit eher halluziniert anekdotisch oder über eine pubertär-infantil limitierte Schwanz-Scheide-Dichotomie(2) vorkommen. In diesen Texten bleibt die Beziehung zu Sittigs malerischer Produktion meistens eine höchstens indirekte – durch die Bezugnahme auf heute tätige Künstler zum Beispiel. Die Texte suggerieren mit großer Hartnäckigkeit bei der Entwicklung seiner masturbatorischen Theorie immer wieder eine Authentizität des Wahrsprechens, was eine groteske, nicht in den Kunstforumsbänden Kunst und Humor I und Kunst und Humor II zu findende Komik freisetzt, die wiederum eine als distanziert apostrophierte Theorie- und Geisteswelt mit dem Dauer-Anderen der Sexualität zu unterwandern und zu sprengen versucht.

Es fallen einem durchaus (kunst-)historische Modelle für Sittigs Sprache und Sprechakte ein, etwa die Ejakulatbücher Anselm Kie fers, aber auch der Lüpertz’sche Sexismus (vgl. etwa seine Zeitschrift Frau und Hund) und seine revisionistisch verschaltete Begrifflichkeit um das ‚Dithyrambische‘, das erigierte, vom eigenen männlichen Subjekt-Sein begeisterte Sprechen über historische Superzeichen, oft verbunden mit der Fantasie, diese mit der eigenen Kreativität ‚überwinden‘ zu können. Sittigs neurotischer Männlichkeitsentwurf weiß sich dagegen auf verlorenem Posten, wirkt existenziell hibbelig. Es tauchen hier auch zeitgenössische Malerkollegen auf, die Sittig im Text explizit adressiert und teils zu Objekten geschriebener Gewaltfantasien macht. Diese männische Welt der Berliner Maler, deren Provokationsvokabular an der Oberfläche meist bemerkenswert asexuell bleibt, erscheint paradoxerweise aus der Sittig’schen Perspektive geradezu zwielichtig. Sein mit zwei wichtigen Troublemakers – abjekter Körperlichkeit und ‚unproduktiver‘ Sexualität – vergifteter Ein-Mann-Kunstdiskurs funktioniert, und dies ganz besonders in seiner performativen Aufführung, als bewusst irritierende Aufladung und Übercodierung seiner malerischen Produktion. Der Punkt, an dem die Irritation besonders ansetzt, ist die vermeintliche ‚schwache Seite‘ seiner Malerei, ihre scheinbare Undurchsichtigkeit und Kommentarbedürftigkeit – überwiegt für oberflächliche Betrachter/innen doch immer wieder die weit zurückreichende historische Referenz auf restaurativ eingesetzte Formen der gestischen Abstraktion der fünfziger und sechziger Jahre. Es gibt bei Sittig kein Fantasma der Sauberkeit mehr, zumindest keines der sauberen Theorie, die Geschichte autoritativ erklären wollte oder könnte. Sittig bezieht sich elaboriert zweideutig auf Geschichte und er hat begriffen, dass es in der Gleichgültigkeit der (nicht nur malerischen) Bilder die gesprochene und geschriebene Sprache ist, die diskriminierende Wertigkeiten und damit Verletzungs-, aber auch Behauptungs- und Kritikpotenziale birgt. Zwar ist seine Performanz als Mal-Er, Schreib-Er, Sprech-Er zwangsläufig und zwanghaft verstrickt in die Gefährdungen, die sie sich anverwandelt und in verschiedenen Rollen nicht wirklich aufhebt. Aber vielleicht deshalb ist es mehr als nur die kunstbetriebsgerecht inszenierte ‚Wiederkehr des Verdrängten‘, um die es Dominik Sittig 
in seinem weiter gefassten Projekt geht. Das ‚Wörtlichnehmen‘ macht die sonst fein getrennt gehaltenen Diskursfelder zueinander erschreckend durchlässig. Wörtlich genommen ist Sittigs Malerei dann nicht nur ein Gemale, sondern, tja, ein Geschichte. Restidealismen erhalten so zumindest en passant einen kräftigen Bodycheck. Seine Kunst, und es steht eben nicht nur sein Painting nicht neben sich, steht abwechselnd im Malen und neben ihm, ohne dass sich dadurch die Beziehung beider involvierten Seiten als irgendeine Art wechselseitiger Erhellung darstellte. Abyssus abyssum invocat. Amen. 

1) Ders., Die Welt und die Hose, übers. v. Erika Tophoven-Schöningh, Frankfurt a. M. 1990, S. 19.
2) Vgl. Dominik Sittig, Die Gesänge des Gedärms. Moral & Malerei, Hamburg 2011, S. 76.

Excerpt from REPRISE I & II, 2012

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