Museum exhibition

Simone Holliger: Same glasses, new view

o.T. Raum für aktuelle Kunst, Luzern, Switzerland
14 November - 12 December 2020

Als Simone Holliger zum Ausstellungsaufbau fährt, reist sie mit riesigem, wenn auch verhältnismässig leichtem Gepäck an. Der Lastwagen ist bestückt mit den für Holligers Schaffen unverwechselbaren, monumentalen Skulpturen aus Papier. Den schönsten Moment der Arbeit erlebe sie stets beim Beziehen des Ausstellungsraums, sagt sie. Dabei gehe sie gerne von einem Zuviel an Material aus. Zum ersten Mal erschafft sie keine von Grund auf neue Arbeit, sondern verfährt mit Fragmenten aus älteren Installationen. Ursprünglich hat sie sich für diesen Ort eine kompakte Präsentation aus vielen kleinen, aufgesockelten Objekten vorgestellt. Änderungen und Verschiebungen geplanter Veranstaltungen anlässlich der weltweit anschwellenden Corona-Pandemie, eröffneten ihr jedoch eine neue Option. Da im Zuge der Lockdowns zahlreiche Ausstellungen über den Sommer hinweg verlängert worden waren, trafen viele von Holligers Arbeiten verzögert und zur selben Zeit in ihrem Basler Atelier ein. Sie war damals gerade von ihrem halbjährigen Berlinaufenthalt zurückgekehrt und fand sich vor einem ’skulpturalen Papierberg‘ wieder. War sie früher in dem kleinen Genfer Atelier gezwungen, die aus grossen Papierbögen zugeschnittenen und verleimten Skulpturen nach jeder Präsentation wieder aufzutrennen, so bietet ihr die Basler Wirkungsstätte nun die Möglichkeit, Arbeiten zu lagern. Daraus entstand die Idee, alten Versatzstücken wörtlich einen neuen Anstrich zu verleihen. Sprechend erscheint da der Titel der hiesigen Arbeit: „Same glasses, new view“.

Ausgangslage der Arbeit war Simone Holligers bewusste Auseinandersetzung mit ihrem bisherigen Schaffen. So durchleuchtete sie alte Muster und beschloss diese zu durchbrechen, indem sie schneller, aber auch freier arbeiten wollte. Vorwiegend nämlich geht Holliger, die ursprünglich aus der Malerei und Zeichnung kommt, sehr überlegt und planerisch vor. Wenngleich die finalen Skulpturen letztlich sehr organisch und intuitiv anmuten, basieren sie meist auf genauen Vorzeichnungen.

Den Skizzen folgend schneidet Holliger aus 2 auf 20 Meter grossen Kulissenkartons abstrakte Formen aus, deren Kanten sie mittels Heissleim aneinander schweisst und somit krude, schiefwinklige, jedoch ausbalancierte Skulpturen entstehen lässt. Das Moment der Improvisation, der Anpassung und des Austarierens setzt erst beim Aufbau ein. Doch dieses Mal ist alles etwas anders, freier. Das Ausgangsmaterial ist zwar bekannt, doch soll dieses ein neues Gesicht bekommen. Wandreliefs etwa treten in den Raum, Gebrauchsspuren werden sichtbar. Die Künstlerin entscheidet sich, den mit oranger Lackfarbe bemalten Objekten einen neuen, uniformen Überzug zu verpassen und diesen nicht von Hand, sondern mit der Spritzpistole aufzutragen. Die Wahl fällt auf eine dunkle, blaugrüne Matt-Tünchung. Diese ist gewollt imperfekt. Immer wieder scheint der Untergrund und damit das Vorleben der Objekte durch.

Bei meinem Gang durch den Raum – entlang der neun in regelmässigem Abstand gesetzten, dunkel gefärbten Papierhelgen, erkenne ich paradoxe Analogien zu schweren, gusseisernen Skulpturen. Zugleich lassen mich die verspielten, scheinbar zufälligen Formen Parallelen zu gegossenen, ins Übermass vergrösserten Zinnformen ziehen. Die einzelnen „Charaktere“, wie die Künstlerin die Objekte zuweilen nennt, tragen keine Untertitel. Dies veranlasst mich dazu, nach ebensolchen zu suchen: „Der Gestapelte“, „Stierkopf“, “ Langbeinige“, „Tanzende“, „Der Koloss“ oder „Die Kobra“ sind nur einige meiner Assoziationen und machen die unterschiedlichen Bauweisen, wie das Addieren, Schichten und Ausformen des Materials deutlich.

Simone Holligers Arbeit lässt gewohnt viel Raum für Interpretation – ähnlich dem fantastischen Spiel, bei welchem in Wolkengebilden lustvoll nach Gesichtern gesucht wird. Die Aktivierung der Betrachtenden gelingt nicht zuletzt dadurch, dass Holligers technisches und kreatives Geschick geltende Definitionen zu überwerfen vermag: Papier, welches wir üblicherweise mit den Eigenschaften flächig, fragil und instabil verbinden, verwandelt sich in ein körperhaftes, dreidimensionales, augenscheinlich stabiles Gebilde. Die „Charaktere“ scheinen uns zudem – anders als in vergangenen musealen Interventionen – ungewohnt nahe zu kommen. Das Licht von draussen hebt ihre organische Struktur noch klarer hervor. Sie scheinen mit den Bäumen im Garten zu korrespondieren: beweglich und robust, reduziert und spannungsreich, bewährt und frei zugleich.

Julia Schallberger

For more information please visit o.T. Raum für aktuelle Kunst.

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