Stephan Melzl - Kunst muss künstlich sein

by Grit Weber
Kunstbulletin
June 2016
Deutsch

Fokus

Seine Bilder sind wie Bühnen. Auf diesen lässt er sonderbare Figuren auftreten, die er genau im Moment der grösstmöglichen Absonderung festhält: ein Paar in den Bergen, ein Heiliger und ein Soldat, ein Striptease-Girl auf einer hohen Wand. Puppenartig wirken die Personen, wächsern oft und ohne Anteilnahme. Die Räume und Landschaften dagegen taucht Stephan Melzl in verheissungsvoll gleissendes Licht. Es ist, als ob er die Künstlichkeit verstörend verdoppelt, damit das Bild sein Hoheitsrecht an der Illusion aufrechterhält.

Ein Klosterbruder, der sich den elementarsten Fragen über das Dies- und Jenseits stellen wollte, zog sich früher von der Gemeinschaft zurück und wurde zu ­einem Anachoreten. Seine freiwillige Vereinzelung sollte eine bessere Zwiesprache mit Gott ermöglichen. Ganz strenge Brüder liessen sich in Klosterräumen einmauern. Nur eine kleine Maueröffnung, die in die Klosterkirche mündete, gewährte den Blick auf den Altar. Immerhin die Ausrichtung auf das Allerheiligste war so gegeben.
Nun wäre es auf keinen Fall richtig, die Arbeit eines Künstlers in seinem Atelier, mit der eines Anachoreten gleichzusetzen. Die jeweiligen Zugänge zu Fragen der Existenz unterscheiden sich zu markant, nimmt doch der eine den Weg über das Spirituelle, der andere über das Ästhetische, um dem Dasein im Grossen wie im Kleinen jene besondere Präsenz zu geben, die es vom Alltäglichen distanziert. Doch es gibt auch deutliche Parallelen, die im Grad der intensiven Einlassung auf einen Gegenstand oder ein Thema zu finden sind.
Wenn Stephan Melzl in seinem Frankfurter Atelier ungefähr zeitgleich an etwa acht bis zehn Bildern arbeitet, ist die Vereinzelung und der Rückzug in die Gesetzmässigkeiten der Bilder elementar. Vielleicht erahnen wir dieses intensive Sich-Einlassen vor allem in der subtil fordernden Wirkung der Bilder, sie werden von Melzls aufmerksamer Behandlung aufgeladen - formal und inhaltlich. Von diesen Werken geht eine kompakte Ausstrahlung aus. Man kann auch behaupten, dass sie aus sich heraus leuchten, was nicht allein an dem Farbwert des Ockers liegt, das sich in ein warmes Braun verdunkeln oder in ein strahlendes Gelb aufhellen kann. Es ist gleichermassen das schichtweise Auftragen der Farben, das dem Bild diese verdichtete Körperlichkeit gibt und es mit Energie anzureichern scheint. Und erst wenn es genügend Energie gespeichert hat, gibt das Bild sie dann wieder an seine Umgebung ab - ruhig und selbstverständlich.

Zwiegespräch mit dem Fremden
Melzls Bildformate entsprechen vornehmlich der üblichen Porträtgrösse, sind ­also meistens 65 mal 50 Zentimeter gross. Ein Format, das in der Produktion ein Face-to-Face fordert, für das sich der Künstler in eine Art intime Zwiesprache mit dem Bild begeben muss. Weniger wie ein körperliches Ringen mit dem Gegenstand wirkt diese Auseinandersetzung, eher scheint es sich um eine Bewusstseinsuntersuchung zu handeln. Womöglich vollziehen wir beim Betrachten der Bildwerke dann ebenfalls diese Versenkung nach. Mit diesem Gegenüber können wir fortan ein bemerkenswertes Gespräch führen, seine Inhalte tragen wir auch nach dem Ende des Dialogs mit uns herum, weil sie uns so sonderbar beschäftigen. Kaum werden wir des Abgebildeten ansichtig, wird es fast dringend, sich nicht nur mit den Rätsel aufgebenden Figuren zu befassen, sondern auch mit diesen eigenartigen Farbnuancen: einem besonderen Blau auf der Spur sein, diesen helleren Braunton erfassen, diesem so gleissenden Gelb widerstehen.
Melzl arbeitet oft lange an einem Format, nuanciert die Farben, stimmt sie auf das Feinste miteinander ab, damit dieser sehr eigenartige Klang aus Leuchtkraft und Sprödigkeit entsteht, die er selbst als «mürbe» bezeichnet. Des Weiteren arbeitet er intensiv am kompositorischen Raum, entwirft ihn einerseits als eine zentralperspektivisch schlüssige Angelegenheit, stört aber die Illusion wiederum, so dass ein selbstvergessenes Einsinken in den Bildraum doch nicht gelingen will.
Da sitzt dieses Kind mit seiner optischen 3D-Brille in einem Kindersitz. Gut möglich, dass es von seinen Eltern im Auto irgendwohin gebracht wird, doch das zeigt das Bild nicht. Vielmehr erscheint uns das Kind in dem Display eines MacBook. Genau auf solch einem Gerät ist auch dieser Text entstanden, und während der Arbeit daran hatte ich die doppelte Funktionsleiste als Bild im Bild ständig vor Augen: «Mise en abyme», das Bild, das sich selbst enthält: Über diesen Effekt schrieb bereits Hans-Jürgen Hafner im Katalog zur Ausstellung in der Pinakothek der Moderne in München 2014. Das aus der Wahrnehmungserfahrung der digital erzeugten Realität in die Malerei übertragene Bildfenster steht in Melzls Gemälde ‹3D›, Öl auf Holz, 2016, vor einer nur als Ausschnitt wahrnehmbaren Landschaft, die sich fast ausschliesslich auf einen Himmel konzentriert: am unteren Bildrand eine dunkle Horizontlinie, die ein grünes Firmament von einem Meer trennt. Direkt darüber bauschen sich kleine Kumuli auf, die sich am oberen Bildrand vor einem tiefblauen Himmelsstreifen wiederholen. Diese Wolken könnten auch aus dem barocken Deckengemälde einer festlichen Kirche stammen. Sie sind so heiter. Der apfelgrüne Himmel wirkt vielversprechend, als könnte er in der nächsten Sekunde zur Bühne einer göttlichen Erscheinung werden. Doch stattdessen erscheint uns das digitale Bild und mit ihm das in seinem Autokindersitz festgeschnallte, einsame Kind. Weil seine Arme nicht zu sehen sind, nehmen wir es als passiven Torso wahr, der inmitten eines dynamisierten Umfelds ein gleichermassen fest gefügtes, wie isoliertes Dasein führt. Anders als ein freiwillig in seiner Zelle eingeschlossener Anachoret scheint das Kind in der Fahrgastzelle keine Erhabenheit zu erleben. Den Widerspruch zwischen dieser heiter-­dynamischen Atmosphäre der Umgebung und dem unvermittelt darin aufscheinenden Bildschirmkind nehmen wir erst nach und nach wahr. Der Widerspruch schlägt nicht ins Gesicht, sondern geht erst langsam aus der Bild-im-Bild-Komposition hervor

Der geistige Gehalt
Obwohl sich die Szene so und ähnlich ohne Weiteres in jedem Alltag wiederfinden lässt, identifizieren wir uns kaum mit ihr. Das Bild bleibt uns zu fremd. Und diese Fremdheit können wir in nahezu jedem Gemälde von Melzl erfahren. Trotz der gekonnten Malweise, die ja auf das Erkennen des Abgebildeten zielt, finden wir uns nicht in dieser genüsslichen Bild-Betrachter-Bestätigung wieder. Es bleibt Distanz: Bild, Betrachtende und Künstler - jeder darf auf seine Art weise sein.
Melzl arbeitete auch schon in früheren Werken mit Bild-im-Bild-Effekten, um die Grundbedingung eines Bildes - seine Künstlichkeit - zu untersuchen und zu variieren. Er erfindet Museumsräume, in die er monumentale biblische Gemälde platziert, Bilder tauchen auf Fan-T-Shirts auf, deren jugendliche Träger mit ihrer linkischen Körperhaltung im sonderbaren Kontrast zur erhabenen Umgebung stehen.
In ‹Electric Ladyland› und in ‹Taufe› ist wieder das profane T-Shirt im Einsatz für das Bild im Bild. Sein Träger erinnert an einen Pop-Guru, der segnend seine Hände über das Wasser hebt, in dem er selbst bis zum Nabel steht, umringt von teilnahmslos dreinschauenden Menschen, denen wiederum das Wasser bis zum Hals steht. Wieder trifft atmosphärisch Erhabenes auf eine Passivität. Es ist, als zelebriere ein Priester sein Hochamt vor einer Gemeinde aus leblosen Wachspuppen. Wie um die Bildaussage erneut an die Hauptfigur zu binden, zeigt sein Shirt das Abbild des ­Hohenpriesters des Materialismus: Karl Marx.
In Melzls Gemälden tauchen regelmässig Heiligendarstellungen und quasireli­giöse Themen auf. Es ist, als borge er sich für seinen Werkkanon, den er mit leichten Neuerungen und Schwerpunktverschiebungen schon seit einigen Jahren stabil hält, die überirdische Strahlung von Andachtsbildern aus dem 16. Jahrhunderts, leihe sich die klaren Farben von Pontormo und die erfrischende Erzähllust eines Tiepolo, füge jedoch dem betörenden Magnetismus die Erfahrung des Säkularen hinzu. Auch Karl Spitzweg nennt Melzl, wenn es um die kunsthistorische Herkunft seiner Beobachtungen geht. Während Spitzweg in seinen kleinen, wunderbar zugespitzten Szenen die Bigotterie des Biederen analysiert, ist in Melzls Werken der Bruch zwischen ­Illusion und Desillusion offensichtlich. Und sonderbar: Wir erleben diesen Bruch gleichermassen als Verlust wie auch als einen intelligent unterhaltenden Comic.

Read original article

Cover Image: 3D, 2016, Öl auf Holz, 65 x 50 cm. Foto: Axel Schneider